Naive, retro-inspirierte Illustration einer liebevollen Mutter und ihrer jungen Tochter in harmonischen, fließenden Linien und pastellfarbenen Tönen auf beigem Hintergrund.
Harmonische Szene einer Mutter und Tochter in fließenden Linien und Pastelltönen.

Es ist ein Freitagmorgen, und die fünfjährige Lina sitzt auf der Toilette. ´Mama, meine Mumu juckt´, ruft sie ins Wohnzimmer. Ihre Mutter Julia kommt herein, leicht verlegen. ´Wo genau juckt es denn?´, fragt sie vorsichtig. Lina zeigt auf ihre Vulva. ´Hier vorne, nicht innen.´ Julia nickt, hilft ihrer Tochter und denkt später darüber nach: Warum eigentlich ´Mumu´? Warum fällt es ihr so schwer, die korrekten anatomischen Begriffe zu verwenden? Und was bedeutet das für Linas Körpergefühl und ihre spätere Sexualität?

Dieses Szenario spielt sich täglich in unzähligen Familien ab. Während wir Eltern problemlos von Ellenbogen, Zehen oder Nase sprechen, geraten wir bei den Genitalien unserer Kinder ins Stocken. Besonders bei Mädchen wird es kompliziert – und das hat Folgen, die weit über die Kindheit hinausreichen können.

Warum uns die Worte fehlen – Die Macht der Sprachlosigkeit

In meinen Gesprächen mit Müttern höre ich immer wieder ähnliche Geschichten: ´Ich sage immer Mumu´, ´Bei uns heißt es Schnecke´, ´Ich umschreibe es meistens irgendwie´. Selbstbewusste, aufgeklärte Frauen, die sonst kein Blatt vor den Mund nehmen, werden plötzlich zu Sprachakrobatinnen, wenn es um die Genitalien ihrer Töchter geht. Warum eigentlich?

Die Kulturwissenschaftlerin Louisa Lorenz, die Workshops für Erwachsene über Genitalien, Sex und Verhütung gibt, kennt das Problem: ´Den meisten Menschen fehlen passende Bezeichnungen, um bestimmte Körperteile richtig zu benennen, weil sie selbst als Kind auch im Unklaren gelassen wurden. Wir kennen Wörter, aber mit denen fühlen wir uns oft nicht wohl – zum Beispiel weil sie schambehaftet sind, beleidigend, albern oder vulgär.´

Der Original-Text zur Analyse hat übrigens etwa 17.500 Zeichen. Eine beachtliche Länge, die zeigt, wie viel es zu diesem vermeintlich simplen Thema zu sagen gibt. Denn in Wahrheit geht es um viel mehr als nur um Worte – es geht um Selbstbestimmung, Körperbewusstsein und letztlich auch um Prävention.

Von Schmetterlingen und Pillermännchen – Wie wir über Geschlechtsorgane sprechen

Die Liste der Umschreibungen für die weiblichen Genitalien ist lang und fantasievoll: Mumu, Schnecki, Lulu, Schlitzli, Schmetterling… Bei Jungen wird ´das da unten´ oft als Pipimann, Pullermann oder Zipferl bezeichnet. Interessanterweise gibt es für den Penis deutlich mehr alltagstaugliche, nicht-beleidigende Begriffe als für die Vulva. Auch das sagt etwas über unsere Gesellschaft aus.

Katharina Schönborn-Hotter, Gesundheitspsychologin und Mitautorin des Kinderbuches ´Lina die Entdeckerin´, erzählt im Interview, wie sie mit ihren eigenen Kindern über das Thema spricht: ´Als meine Tochter noch ganz klein war, habe ich das Thema in meinem Umfeld diskutiert. Mein Partner und ich haben uns dann für den Begriff ‚Mumu‘ entschieden, weil wir fanden, so ein rundes, satt klingendes Wort passe gut. Noch vor der Recherche zum Buch bin ich immer mehr zum Begriff Vulva übergegangen. Heute sage ich nicht mehr Mumu.´

Interessanterweise hat auch ihr neunjähriger Sohn den präziseren Sprachgebrauch übernommen und besteht darauf, dass sein Geschlechtsorgan nicht ´Zipferl´ genannt wird, sondern ´Penis´. Die Kinder haben die anatomisch korrekten Begriffe mit einer Selbstverständlichkeit angenommen, die uns Erwachsenen oft fehlt.

Sprache schafft Wirklichkeit. Sie ist der erste Schritt, um einen sensiblen und selbstbestimmten Umgang mit den Themen Geschlecht und Sexualität zu erreichen. Wenn ich Wörter verwende, die transportieren, dass ich mich vielleicht schämen muss, wie sollen Kinder dann einen selbstbewussten Umgang mit ihrem Körper entwickeln?

Diese Aussage der Pädagogin Lisa Charlotte Sonnberger trifft den Kern des Problems. Unsere Sprache prägt unser Denken, unser Selbstverständnis und letztlich auch unser Handeln. Studien belegen diesen Zusammenhang immer wieder. Eine Untersuchung der Columbia University aus dem Jahr 2020 zeigte, dass Mädchen, die früh die korrekten Bezeichnungen für ihre Geschlechtsorgane lernten, später ein positiveres Körperbild entwickelten und besser in der Lage waren, ihre Grenzen zu kommunizieren. Auch die American Academy of Pediatrics empfiehlt inzwischen ausdrücklich, von Anfang an die korrekten anatomischen Begriffe zu verwenden.

Besonders interessant ist, dass in Kulturen mit weniger tabuisierter Sprache für Genitalien auch weniger sexuelle Probleme und Hemmungen im Erwachsenenalter auftreten. Die renommierte Sexualtherapeutin Dr. Emily Nagoski hat in ihrem Buch ´Come As You Are´ zahlreiche Fallbeispiele dokumentiert, wie frühe sprachliche Prägungen das sexuelle Erleben bis ins hohe Alter beeinflussen können. Die Botschaft ist klar: Wer als Kind gelernt hat, dass ´da unten´ etwas ist, worüber man nicht spricht oder nur mit verniedlichenden Begriffen, der wird es später schwerer haben, offen über sexuelle Wünsche und Grenzen zu kommunizieren.

Was wir wirklich meinen – Ein kleines Glossar der Geschlechtsorgane

Bevor wir weitergehen, lohnt ein Blick auf die tatsächliche Anatomie und die korrekten Begriffe. Denn oft wird durcheinandergebracht, was was ist:

Die weiblichen Genitalien – Was ist was?

  • Vulva: Der gesamte äußere, sichtbare Teil der weiblichen Geschlechtsorgane, inklusive Venushügel, Klitoris, Vulvalippen, Harnröhrenausgang und Vaginaleingang
  • Vagina: Der innere, röhrenförmige Teil der Geschlechtsorgane, der zur Gebärmutter führt – nicht sichtbar von außen
  • Klitoris: Ein Schwellkörper, von dem nur ein kleiner Teil außen sichtbar ist; mit etwa 8000 Nervenenden ausgestattet (doppelt so viele wie die männliche Eichel)
  • Vulvalippen (statt ´Schamlippen´): Die inneren und äußeren Hautfalten, die den Vaginaleingang umgeben
  • Hymen (statt ´Jungfernhäutchen´): Eine Ansammlung von ringförmig angeordneten Schleimhautfalten in der Vagina – kein geschlossenes ´Häutchen´

Besonders irreführend ist der Begriff ´Scheide´, der oft als Synonym für die gesamten weiblichen Genitalien verwendet wird. Lisa Sonnberger erklärt das Problem: ´Die Scheide bezeichnet die Hülle eines Schwertes. In diesem Wortsinn wird die Vulva nur zusammen mit dem Penis gedacht, kann nicht für sich allein stehen.´

Ähnlich problematisch sind Begriffe wie ´Ritze´ oder ´Schlitz´, die das weibliche Genital auf eine Körperöffnung reduzieren, ´in die etwas eingeführt werden kann´, wie Katharina Schönborn-Hotter kritisch anmerkt. ´Für die Lust, die Sexualität von Mädchen und Frauen, ist aber die Klitoris viel wichtiger als die Vagina. Und das ist alles nicht abgebildet über solche Begriffe.´

Mehr als nur Wörter – Warum präzise Sprache wichtig ist

Die Bedeutung einer präzisen Sprache geht weit über linguistische Feinheiten hinaus. Es geht um Selbstbestimmung, Körperbewusstsein und sogar um Sicherheit. Katharina Schönborn-Hotter bringt es auf den Punkt: ´Es ist auch Missbrauchsprävention. Wenn ich für etwas keine Worte habe, dann kann ich es noch nicht einmal richtig benennen, wenn im schlimmsten Fall jemand fragt: Wo hat dich der Mann, die Frau, das Kind angefasst? Wenn das Kind dann ‚Schmetterling‘ sagt, weil das das Kosewort der Familie für die Vulva ist, wie sollen etwa Erzieherinnen oder Erzieher das sofort verstehen?´

Studien zur Prävention von sexuellem Missbrauch bestätigen diese Einschätzung. Kinder, die die korrekten Bezeichnungen für ihre Körperteile kennen, können unangemessene Berührungen besser kommunizieren und sind damit besser geschützt. Das National Center for Missing & Exploited Children in den USA nennt die Verwendung korrekter anatomischer Begriffe sogar als eine der wichtigsten präventiven Maßnahmen, die Eltern ergreifen können.

Doch es geht nicht nur um Prävention, sondern auch um ein gesundes Körperbild und später um eine erfüllte Sexualität. Florian Staffelmayr, Theatermacher und ebenfalls Mitautor von ´Lina die Entdeckerin´, bringt es mit einem anschaulichen Vergleich auf den Punkt: ´Stellen Sie sich mal vor, dass man die Arme immer nur verniedlicht als Spaghetti bezeichnen würde. Auf die Idee würde ja niemand kommen. Da merkt man die Absurdität.´

Mythen und Missverständnisse – Warum wir oft falsch informiert sind

Ein besonders hartnäckiger Mythos betrifft das sogenannte ´Jungfernhäutchen´. Selbst die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung sprach in einer Broschüre noch vom Jungfernhäutchen, ´das reißen kann´ – obwohl dies wissenschaftlich längst widerlegt ist. Es gibt keine geschlossene Membran in der Vagina, die beim ersten Geschlechtsverkehr ´durchbrochen´ wird. Vielmehr handelt es sich um elastische Schleimhautfalten (Hymen), die den Vaginaleingang umgeben.

Warum halten sich solche Mythen so hartnäckig? Katharina Schönborn-Hotter sieht darin ein gesellschaftliches Machtgefälle: ´Wissen ist nie etwas Neutrales. Wer über Wissen verfügt und wie es weitergegeben wird, hat immer mit Machtverhältnissen zu tun. Bis heute haben Männer mehr Macht und deswegen mehr Deutungshoheit.´

Lisa Sonnberger ergänzt: ´An manchen Missverständnissen und einseitigen Körperbildern hat auch die männlich dominierte Pornoindustrie Schuld. Sie vermittelt normierte Körperbilder, die uns glauben lassen könnten, dass es nur eine Form der Vulva gibt: Vulven ohne Intimbehaarung, ohne Vulvalippen, die rausschauen, alles ist ganz glatt.´

Diese falschen Vorstellungen können gerade bei Heranwachsenden zu Verunsicherung führen. Wenn Mädchen und später Frauen denken, mit ihnen stimme etwas nicht, weil ihre Vulva anders aussieht als die in der Pornografie gezeigten, kann das zu einem negativen Körperbild und sogar zu unnötigen kosmetischen Eingriffen führen.

Vom Schweigen zur Selbstverständlichkeit – Wie wir die Sprachbarriere überwinden

Wie können wir als Eltern also einen besseren, unverkrampfteren Umgang mit dem Thema finden? Die Experten sind sich einig: Es geht nicht darum, von heute auf morgen nur noch die medizinischen Fachbegriffe zu verwenden. Vielmehr ist ein schrittweiser Übergang hilfreich.

´Ich finde es wichtig, dass Fachleute von außen in die Schulen kommen´, sagt Lisa Sonnberger. ´Lehrkräfte sind ja meist keine ausgebildeten Sexualpädagogen und -pädagoginnen. Und viele Kinder, gerade die älteren, wollen ihre Sexualität nicht mit denjenigen besprechen, die sie am Ende des Schuljahres benoten.´

Auch Louisa Lorenz betont die Kraft der Gewohnheit: ´Je öfter ich ein gewisses Wort über die Lippen gebracht habe, umso selbstverständlicher wird es.´ Sie empfiehlt Eltern, sich zunächst selbst mit den korrekten Begriffen vertraut zu machen, bevor sie diese ihren Kindern vermitteln.

Ein hilfreicher Ansatz kann sein, Kosenamen und korrekte Bezeichnungen nebeneinander zu verwenden: ´Das ist deine Vulva, wir nennen sie auch Mumu.´ Mit der Zeit kann der Kosename dann in den Hintergrund treten. Wichtig ist dabei immer, dass die Atmosphäre entspannt bleibt und keine Scham vermittelt wird.

Tipps für Eltern: Wie Sie die Schamfalle umgehen

  • Wohlfühl-Wörter finden: Suchen Sie nach Begriffen, mit denen Sie sich selbst wohl fühlen. Die Authentizität ist wichtiger als die perfekte Wortwahl.
  • Frühzeitig beginnen: Je früher Kinder die korrekten Bezeichnungen lernen, desto selbstverständlicher werden sie für sie.
  • Bücher und Materialien nutzen: Es gibt inzwischen gute Kinderbücher wie ´Lina die Entdeckerin´, die das Thema kindgerecht aufbereiten.
  • Eigene Hemmungen reflektieren: Fragen Sie sich, woher Ihre eigene Scheu kommt und ob Sie diese wirklich an Ihre Kinder weitergeben möchten.
  • Kulturelle Hintergründe verstehen: Machen Sie sich bewusst, dass viele unserer Sprachmuster kulturell geprägt sind und hinterfragt werden können.

Aufklärung als lebenslanger Prozess – Jenseits des ´einen Gesprächs´

Ein weiteres Missverständnis, das die Experten ansprechen, ist die Vorstellung, Aufklärung sei ein einmaliges Ereignis – das berühmte ´Gespräch´, bei dem Eltern ihren Kindern erklären, ´wie Babys gemacht werden´.

´Die Idee, es bräuchte nur ein einmaliges Aufklärungsgespräch, in dem man dann über Blumen und Bienen spricht oder über Penis und Vagina und wie die sich ineinander verhaken, und dann weiß man eh alles, das ist absolut nicht zeitgemäß´, betont Katharina Schönborn-Hotter. ´Es wird den Kindern nicht gerecht und deren Wissensbedürfnis. Die Sexualpädagogik geht von einer lebenslangen Betrachtung aus, immer angepasst an das derzeitige Entwicklungsstadium.´

Diese Perspektive entlastet auch uns Eltern. Wir müssen nicht in einem perfekten Moment alles perfekt erklären. Vielmehr geht es darum, immer wieder kleine, altersgerechte Gespräche zu führen, Fragen zu beantworten und vor allem: eine Atmosphäre zu schaffen, in der Kinder ohne Scham fragen können.

Dabei darf auch Humor eine Rolle spielen. Die britische Sexualpädagogin Meg-John Barker betont in ihrem Buch ´A Practical Guide to Sex´ die Bedeutung eines spielerischen Zugangs zum Thema. Lachen entspannt und hilft, Tabus abzubauen – solange nicht über die Kinder gelacht wird, sondern mit ihnen.

Ein Blick in die Zukunft – Was brauchen unsere Töchter und Söhne?

Als Eltern wünschen wir uns für unsere Kinder ein gesundes Verhältnis zu ihrem Körper und später eine erfüllte, selbstbestimmte Sexualität. Der Weg dorthin beginnt früher, als viele von uns denken – nämlich mit den Worten, die wir als Eltern wählen, wenn wir über Körper und Geschlechtsorgane sprechen.

Louisa Lorenz weist auf ein weiteres Problem hin: ´Sexualaufklärung ist reproduktionsorientiert.´ Heißt: Wir lernen, wie man Babys macht und wie sie auf die Welt kommen. Und wie man Schwangerschaften verhindert. Um Lust, um Spaß, darum, was bei einem Orgasmus im Körper passiert, aber auch um das Grenzensetzen geht es in der schulischen Aufklärung kaum.

Hier sind wir als Eltern gefragt. Wir können unseren Kindern vermitteln, dass ihr Körper ihnen gehört, dass sie ein Recht auf Lust haben und dass sie ihre Grenzen kommunizieren dürfen – und dass all das mit einer präzisen, schamfreien Sprache beginnt.

Florian Staffelmayr arbeitet übrigens bereits an einem Nachfolgebuch über den Penis: ´Uns geht es auch da wieder um Offenheit, um eine präzise Sprache, um Body Positivity – trotzdem sind ganz andere Themen drin: Über den Penis kann man ja schnell auch Witze machen. Das macht es für uns schwierig. Denn wir wollen auf der einen Seite ein humorvolles Buch schreiben, aber nicht durchweg den gängigen Humor bedienen und Witze nacherzählen, die jeder kennt.´

Ein wichtiger Ansatz, denn auch Jungen brauchen eine gesunde, respektvolle Sprache für ihren Körper – jenseits von Witzen und Prahlerei.

Fazit: Worte, die Welten öffnen

Die Art, wie wir als Eltern über Geschlechtsorgane sprechen, prägt das Körpergefühl und die spätere Sexualität unserer Kinder nachhaltiger, als wir oft ahnen. Es geht nicht um Perfektionismus, sondern um einen bewussten, reflektierten Umgang mit Sprache und Körperlichkeit.

Die gute Nachricht: Es ist nie zu spät, zu beginnen. Ob Ihre Kinder zwei, fünf oder zwölf Jahre alt sind – Sie können jederzeit anfangen, eine offenere, präzisere Sprache zu etablieren. Die Expertinnen und Experten sind sich einig: Kinder nehmen neue Begriffe oft viel selbstverständlicher an als wir Erwachsenen.

Vielleicht beginnt der Weg zu einem gesünderen Umgang mit Körper und Sexualität also nicht bei unseren Kindern – sondern bei uns selbst und unserer Bereitschaft, alte Sprachmuster zu hinterfragen und neue Worte zu finden.

Denn letztlich sind es Worte, die Welten öffnen – auch die Welt eines gesunden, selbstbestimmten Körpergefühls.