
An einem nebligen Herbstmorgen stehe ich vor Jana Heinickes Haus. Die Autorin hat mich zu einem Gespräch eingeladen – nicht in ein Café oder eine Buchhandlung, sondern in ihr Zuhause. ´Über Mutterschaft zu sprechen bedeutet auch, Verletzlichkeit zuzulassen´, erklärt sie mir später. Vielleicht ist es genau diese Verletzlichkeit, die den Raum braucht, den nur ein privater Ort bieten kann.
Als ich eintrete, sehe ich überall Spuren eines gelebten Familienlebens: Kinderbücher neben Literaturklassikern im Regal, ein halb fertiges Puzzle auf dem Couchtisch, eine Tasse Tee, die schon etwas abgekühlt zu sein scheint. Jana Heinicke begrüßt mich herzlich, aber ich bemerke auch eine gewisse Nachdenklichkeit in ihrem Blick.
´Eigentlich wollte ich dieses Interview gar nicht geben´, sagt sie mit einem leisen Lachen, während sie mir einen Kaffee anbietet. ´Nicht, weil ich nicht über Mutterschaft sprechen möchte – im Gegenteil. Sondern weil ich befürchte, dass meine Worte wieder in diese glattpolierte Schablone gepresst werden, die wir so oft über Mütter stülpen.´ Diese Befürchtung ist nicht unbegründet. Ihr Buch ´Aus dem Bauch heraus: Wir müssen über Mutterschaft sprechen´ hat seit seinem Erscheinen im November 2022 eine Welle an Reaktionen ausgelöst – von tiefer Dankbarkeit bis hin zu scharfer Kritik.
Die Erfindung der perfekten Mutter
Wir setzen uns an den Küchentisch. Durch das Fenster fällt sanftes Licht auf unsere Gesichter. Jana Heinicke streicht sich eine Strähne aus der Stirn und beginnt zu erzählen – nicht nur als Autorin, sondern als Frau, die selbst durch den transformativen Prozess der Mutterschaft gegangen ist.
´Weißt du, was mich am meisten schockiert hat, als ich anfing, mich mit der Geschichte des Mutterbildes zu beschäftigen?´, fragt sie und lehnt sich vor. ´Dass unsere gesamte Vorstellung von der ‚guten Mutter‘ im Grunde eine Erfindung ist. Eine Erfindung aus der Zeit der Aufklärung, erdacht von Männern wie Rousseau – der übrigens seine eigenen Kinder bereits im Säuglingsalter weggegeben hat.´
Ich halte inne, die Kaffeetasse auf halbem Weg zu meinen Lippen. Diese Information wirkt wie ein plötzlicher Riss in einem Gemälde, das ich mein Leben lang betrachtet habe, ohne seine Konstruktion zu hinterfragen.
´Im aufkommenden Bürgertum wurden die Frauen zunehmend in private Räume verdrängt´, fährt Jana fort, während sie gedankenverloren mit dem Löffel in ihrer Tasse rührt. ´Auf einmal hieß es, es wäre ihre Natur, für andere zu sorgen und Harmonie zu stiften. Nur dadurch würden sie ihrer wahren Bestimmung nachkommen. Da kann man getrost vom größten Mansplaining-Akt der westeuropäischen Geschichte sprechen.´
Ihre Worte hallen nach, während ich an die unzähligen Ratgeber, Magazinartikel und Social-Media-Posts denke, die täglich definieren, was eine ´gute Mutter´ ausmacht. Die Idee, dass dieses Bild auf einer historischen Konstruktion basiert, erschüttert das Fundament vieler gesellschaftlicher Erwartungen.
Jana erzählt von ihrer eigenen Schwangerschaft, wie sie plötzlich zum ´Allgemeingut´ wurde. Menschen fassten ungefragt an ihren Bauch, gaben ungebetene Ratschläge und überschritten Grenzen, die sie klar gesetzt hatte. ´Diese extreme Übergriffigkeit, diese Nicht-Wahrung meiner Grenzen hat mich in eine große Ohnmacht gebracht und mich wütend gemacht´, erklärt sie mit einer Intensität, die von der noch immer spürbaren Verletzung zeugt.
Während wir sprechen, greift Jana nach einem Fotoalbum. Sie blättert zu einem Bild, das kurz nach der Geburt ihres Kindes aufgenommen wurde. Ihr Gesicht darauf strahlt nicht nur die oft beschworene ´Mutterglückseligkeit´ aus, sondern zeigt eine komplexe Mischung aus Erschöpfung, Überwältigung, Liebe und einer tiefen Verunsicherung.
Das Mutterbild in unserer Gesellschaft ist ein unrealistischer Mythos, der von einer Handvoll weißer cis Männer erschaffen wurde, die bestimmt haben, wie Frauen zu sein hätten und dass Muttersein in ihren Genen läge.
Als ich Jana nach ihrer einschneidendsten Erkenntnis in der Mutterschaft frage, hält sie einen Moment inne. ´Dass ein Kind zu bekommen und Mutter zu werden zwei unterschiedliche Paar Schuhe sind´, sagt sie schließlich. ´Es sind zwei Prozesse, die zwar oft parallel ablaufen und einander bedingen, aber eben doch zwei verschiedene Menschen betreffen.´
Diese Unterscheidung erscheint so offensichtlich und doch so revolutionär zugleich. ´Für mich war es ein sehr erleuchtender Moment, als ich circa eineinhalb Jahre nach der Geburt auf den Begriff der ‚Muttertät‘ stieß´, erzählt sie. ´Er bezeichnet den Zeitraum, in dem eine Person zur Mutter wird und in dem sich physische, psychische, neurologische und hormonelle Veränderungen ähnlichen Ausmaßes wie in der Pubertät ereignen.´
Während Jana spricht, denke ich an all die Frauen, die ich kenne, die Mütter geworden sind. An ihre Geschichten von Identitätsverlust, von überwältigenden Gefühlen, von der Schwierigkeit, sich in einem Körper und einem Leben wiederzufinden, das plötzlich nicht mehr allein ihnen gehört. Und ich denke daran, wie selten diese Geschichten in ihrer ganzen Komplexität erzählt werden dürfen.
Die unerzählten Geschichten der Mutterschaft
Der Himmel draußen hat sich verdunkelt, Regentropfen beginnen gegen die Fensterscheiben zu klopfen. Jana steht auf, um das Fenster zu schließen, und bleibt einen Moment stehen, den Blick nach draußen gerichtet.
´Weißt du, was mich am meisten frustriert?´, fragt sie, ohne sich umzudrehen. ´Dass wir für die erste Zeit nach der Geburt sprachlich so eingeschränkt sind. Da ist ja oft nur von totaler Liebe die Rede, von einer ‚Kuschelzeit‘, vom Überwältigtsein vor lauter Glück. Oder es geht, in Abgrenzung dazu, direkt um eine Depression, also eine Pathologisierung. Aber dazwischen ist ja ein riesiger Raum, den wir sprachlich noch fast gar nicht erkundet haben.´
Als sie sich wieder setzt, erzählt Jana von der ersten Zeit mit ihrem Kind. Von der Überforderung, der Erschöpfung, aber auch von Momenten tiefer Verbundenheit. Sie spricht von dem Verlust ihres früheren Selbst und der langsamen, manchmal schmerzhaften Geburt ihres neuen Ichs als Mutter.
´Die erste Zeit als Mutter hat mich auch deswegen so krass gefordert, weil sich mein Emotionsradius plötzlich derart vergrößert hat, dass ich all die Gefühle nicht mehr in Worte fassen konnte´, erklärt sie. Diese Sprachlosigkeit angesichts der eigenen Erfahrung scheint ein gemeinsamer Nenner vieler Mütter zu sein – verstärkt durch eine Gesellschaft, die nur bestimmte Narrative über Mutterschaft zulässt.
Wir sprechen über die Romantisierung von Mutterschaft, die oft dazu dient, unbezahlte Sorgearbeit zu legitimieren. ´Mütter sollen aus reiner Liebe wickeln, kochen, waschen und einen Haushalt organisieren´, sagt Jana. ´Und wenn eine Mutter sagt: Das ist mir alles zu viel – dann heißt es, sie würde wohl ihre Familie nicht stark genug lieben.´
Während unseres Gesprächs bemerke ich, wie viele dieser Erwartungen ich selbst internalisiert habe, wie sehr sie Teil meines Denkens über Mutterschaft geworden sind, ohne dass ich es bewusst wahrgenommen hätte. Janas Worte wirken wie ein Spiegel, der mir meine eigenen unbewussten Annahmen zeigt.
´Eigentlich komme ich aus einer Familie, in der ich mich zumindest von meiner Mutter und Großmutter immer sehr geschützt und unterstützt gefühlt habe´, erzählt Jana. ´Mit der Geburt meines Kindes hörte dieser emotionale Support auf einmal auf. Das war eine krasse Erfahrung für mich: von der schützenswerten (Enkel-)Tochter zur gelesenen Mutter, die sich jetzt selbst um alles zu kümmern und die keine Ansprüche mehr zu stellen hat.´
Diese erste Zeit wird mit so unrealistischen Begriffen gelabelt wie Elternzeit oder Babypause. Als ob. Es ist keine Babypause. Du hast als Eltern niemals Pause. Es müsste Baby-niemals-Pause heißen. Das wäre realistischer.
Ein Kinderlachen dringt durch die geschlossene Tür zu uns herein. Jana lächelt kurz, erklärt mir, dass ihr Kind heute bei einer Freundin spielt. ´Auch das ist etwas, was ich erst lernen musste – dass es in Ordnung ist, Zeit für mich zu nehmen, dass ich nicht rund um die Uhr verfügbar sein muss.´
Als wir über die Befreiung von toxischen Erwartungen sprechen, wird Janas Stimme eindringlicher. ´Ich glaube, was diese Erwartungshaltung so toxisch macht, ist, dass man sich so schämt, wenn man ihr nicht gerecht wird. Dieses Gefühl ‚Wow, das ist echt wichtig, dass ich das schaffe‘ – und dann schafft man es eben nicht. Das fühlt sich grauenhaft an.´
Sie erzählt, wie das Schreiben ihres Buches für sie zu einem Akt der Selbstermächtigung wurde. ´Das war eine große Selbstermächtigung für mich, mir das Wissen anzueignen und auch dieser Stimme in mir drin sagen zu können: ‚Guck mal, es steht hier schwarz auf weiß, es liegt nicht in meinen Genen‘.´
Ein neues Gespräch über Mutterschaft beginnen
Der Regen hat nachgelassen, ein zarter Sonnenstrahl fällt durch die Wolken und lässt die Regentropfen auf den Blättern des Baumes vor dem Fenster glitzern. Jana und ich haben mittlerweile unseren Kaffee ausgetrunken, doch unser Gespräch hat eine Tiefe erreicht, die keiner von uns unterbrechen möchte.
´Wenn wir über selbstbestimmte Mutterschaft sprechen, müssen wir auch über Privilegien sprechen´, sagt Jana nachdenklich. ´Wir können Mutterschaft ja nicht außerhalb der Strukturen denken, in denen wir leben. Und diese Strukturen bringen streckenweise große Abhängigkeiten mit sich – vor allem finanzieller Natur, aber auch Abhängigkeiten von Personen und Infrastrukturen.´
Sie spricht darüber, wie unterschiedlich die Möglichkeiten sind, Mutterschaft zu gestalten, je nachdem, ob man finanziell abgesichert ist, ein stabiles soziales Netz hat oder mit chronischen Krankheiten kämpft. ´Fehlen diese Privilegien, ist der Gestaltungsspielraum ungleich kleiner´, betont sie.
Als ich Jana frage, welchen Rat sie werdenden Eltern mit auf den Weg geben würde, erzählt sie eine persönliche Geschichte. ´Ein paar Tage, bevor ich mein Kind geboren habe, hatte ich Kontakt mit einer alten Freundin aus Studienzeiten´, beginnt sie. ´Wir sprachen über verschiedene Geburtsmodi und dass ich so gerne im Geburtshaus gebären wollen würde. Sie meinte zu mir: ‚Ich wünsche dir das sehr. Aber weißt du, wenn es anders kommt, als du denkst, dann ist es nicht besser oder schlechter. Dann wirst du dein Kind auch geboren haben. Jede Geburt ist eine richtige Geburt.’´
Jana hält inne, ihre Augen glänzen leicht. ´Und ich habe in dem Moment, wo sie das gesagt hat, so gedacht: ‚Ja, ja. Ich kriege mein Kind schon ohne PDA im Geburtshaus.‘ Und dann kam alles völlig anders. Im Wochenbett musste ich immer wieder an dieses Gespräch denken. Rückblickend kann ich sagen, dass die Worte meiner Freundin der ehrlichste, schönste Ratschlag waren, den ich in der ganzen Schwangerschaft bekommen hatte.´
Diese Geschichte berührt mich tief. Sie enthält so viel von dem, was Jana in unserem gesamten Gespräch vermitteln wollte: die Notwendigkeit, unsere Vorstellungen von der ´richtigen´ Art, Mutter zu sein, loszulassen; die Wichtigkeit, einander mit Empathie statt mit Urteilen zu begegnen; und die Erkenntnis, dass Mutterschaft so viele verschiedene Gesichter haben kann wie es Mütter gibt.
Als wir uns verabschieden, steht Jana einen Moment im Türrahmen, eine Hand auf dem Holz ruhend. ´Ich wünsche allen Eltern, dass ihnen mit Wohlwollen begegnet wird´, sagt sie zum Abschluss. ´Mit Wohlwollen und Milde und mit der Frage ‚Wie kann ich helfen?‘ Und nicht mit der Forderung, dieses oder jenes besser machen zu müssen.´
Auf dem Heimweg denke ich über unser Gespräch nach. Über die Geschichten, die wir uns über Mutterschaft erzählen – und die, die wir verschweigen. Über die Möglichkeit, ein neues, ehrlicheres Gespräch zu beginnen. Und darüber, wie befreiend es sein kann, die Maske der perfekten Mutter abzulegen und einfach Mensch zu sein – mit all den widersprüchlichen Gefühlen, die das Muttersein mit sich bringt.
Jana Heinickes Buch mag ´Wir müssen über Mutterschaft sprechen´ heißen, aber was sie eigentlich fordert, ist nicht nur ein Gespräch, sondern eine Revolution: in der Art, wie wir Mutterschaft denken, wie wir über sie sprechen und wie wir sie leben. Eine Revolution, die vielleicht damit beginnt, dass wir aufhören, Mütter zu idealisieren, und anfangen, sie in ihrer ganzen menschlichen Komplexität zu sehen.