Das Gehirn eines Kindes ist wie ein Garten, der darauf wartet, bepflanzt zu werden. Jede Erfahrung, jede Interaktion, jede Herausforderung ist ein Samenkorn, das entweder zu einer prächtigen Blume oder zu einem unliebsamen Unkraut heranwachsen kann. Als Mutter ist man Gärtnerin dieses kostbaren Gartens, und die Art und Weise, wie man ihn pflegt, hat einen tiefgreifenden Einfluss auf die Entwicklung des Kindes.
Die formbare Welt des Kindergehirns
Die moderne Hirnforschung hat in den letzten Jahren bahnbrechende Erkenntnisse geliefert, die uns ein völlig neues Verständnis davon vermitteln, wie das Gehirn unserer Kinder funktioniert und wie es sich entwickelt. Lange Zeit glaubte man, dass die grundlegenden Strukturen des Gehirns in der frühen Kindheit festgelegt werden. Doch heute wissen wir, dass das Gehirn viel formbarer ist als gedacht. Erfahrungen prägen die Struktur des Gehirns und verändern sie ein Leben lang. Dies gilt insbesondere für Kinder, deren Gehirne sich noch in der Entwicklung befinden und daher besonders empfänglich für äußere Einflüsse sind. Der renommierte Neurobiologe Gerald Hüther betont immer wieder, wie wichtig es ist, Kindern die richtigen Erfahrungen zu ermöglichen, damit sich ihr Gehirn optimal entwickeln kann. Konzentrationsfähigkeit beispielsweise entsteht nicht von selbst, sondern nur, wenn ein Kind ausreichend Gelegenheit hat, sich in Ruhe mit sich selbst zu beschäftigen, zu spielen und seinen Interessen nachzugehen. Und Sprachgefühl entwickelt sich am besten, wenn viel mit dem Kind gesprochen, gesungen und vorgelesen wird.
Um das besser zu verstehen, kann man sich das Gehirn wie eine Zwiebel vorstellen, wie es Gerald Hüther oft erklärt. Im Inneren befindet sich der Hirnstamm, der für lebenswichtige Körperfunktionen wie Atmung und Verdauung zuständig ist. Darüber liegt das limbische System, das als „Gefühlszentrum“ fungiert. Hier werden Informationen aus dem Hirnstamm gebündelt und als Emotionen wahrgenommen. Jeder kennt das Gefühl, wenn das Herz rast, die Hände schwitzig werden und man Angst hat. Die äusserste Schicht ist der Kortex, der Sitz des Bewusstseins. Hier findet das Denken, Planen und Problemlösen statt. Der Kortex ermöglicht es uns, unsere Gefühle zu kontrollieren und rationale Entscheidungen zu treffen. Bei einem Neugeborenen sind zunächst nur die unteren beiden „Zwiebelschichten“ vorhanden. Der Kortex, also das Bewusstsein, muss sich erst entwickeln. Man kann sich das wie Informationsbahnen vorstellen, die sich je nach Nutzung verstärken oder verkümmern. Wenn ein Kind also regelmäßig vor dem Fernseher sitzt, werden bestimmte Bereiche seines Gehirns weniger stimuliert als wenn es draußen auf einem Abenteuerspielplatz spielt. Und das hat langfristige Auswirkungen auf seine Entwicklung.
Moderne Hirnforschung und kindliche Entwicklung
Die Erkenntnisse der Hirnforschung sind für uns Mütter von unschätzbarem Wert. Sie helfen uns zu verstehen, wie wir unsere Kinder bestmöglich fördern und unterstützen können. Es geht nicht darum, sie mit Förderprogrammen zu überlasten, sondern darum, ihnen die Möglichkeit zu geben, ihre eigenen Interessen zu entdecken und ihre Fähigkeiten zu entfalten. Es geht darum, ihnen eine Umgebung zu schaffen, in der sie sich sicher und geborgen fühlen, in der sie Fehler machen dürfen und in der sie lernen, mit Herausforderungen umzugehen.
Veränderungen im Kindergehirn im digitalen Zeitalter
Die Welt hat sich in den letzten Jahrzehnten rasant verändert, und das hat auch Auswirkungen auf die Entwicklung der Kindergehirne. Wissenschaftler haben festgestellt, dass sich die Gehirne von Kindern heute von denen früherer Generationen unterscheiden. Eine besorgniserregende Entwicklung ist, dass die Vielfalt und Komplexität der Nervenzellverknüpfungen im Sprachzentrum abgenommen hat. Das könnte ein Grund dafür sein, dass sich viele Jugendliche heute mit einer vergleichsweise einfachen Sprache verständigen. Auf der anderen Seite hat sich der Bereich im Gehirn, der für die Steuerung des Daumens zuständig ist, seit der Einführung von Gameboys und Smartphones vergrössert. Das mag auf den ersten Blick nicht dramatisch erscheinen, aber es wirft die Frage auf, ob wir unseren Kindern wirklich die richtigen Prioritäten setzen.
„Kinder brauchen nicht nur Phasen der Anregung, sondern auch Phasen der Ruhe, um ihre Fantasie und ihr Selbstbewusstsein zu entwickeln.“
In unserer Gesellschaft herrscht oft der Eindruck, dass Kinder so früh wie möglich gefördert werden müssen. Ballettunterricht, Frühenglisch, Musikschule – der Terminkalender vieler Kinder ist vollgepackt. Aber wo bleibt da die Zeit zum Entspannen, zum Träumen, zum Spielen? Studien haben gezeigt, dass Kinder sich zwar freuen, wenn sie etwas geschafft haben, aber dass es dabei nicht um Höchstleistungen und Bestnoten geht. Glücklich und zufrieden werden sie vor allem dann, wenn sie über Fantasie, Selbstbewusstsein und Einfühlungsvermögen verfügen. Und um diese Fähigkeiten zu entwickeln, braucht das Gehirn nicht nur Anregung, sondern auch Ruhephasen. Überforderung und ständige Reizüberflutung können negative Auswirkungen auf die Entwicklung des Gehirns haben. Gerald Hüther betont, dass in den Gehirnen von überforderten, zappeligen Kindern oft Veränderungen zu finden sind, die es ihnen erschweren, zur Ruhe zu kommen. Und ähnliche Veränderungen beobachten Wissenschaftler bei Kindern, die täglich stundenlang vor dem Computer sitzen.
Es ist wichtig, dass wir als Mütter ein Bewusstsein für diese Entwicklung entwickeln und unseren Kindern die Möglichkeit geben, sich in einer gesunden Balance zu entwickeln. Das bedeutet nicht, dass wir sie von allen digitalen Medien fernhalten sollen. Aber wir sollten darauf achten, dass sie auch genügend Zeit im Freien verbringen, sich bewegen, mit anderen Kindern spielen und ihre Fantasie entwickeln können.
Herausforderungen als Wachstumschancen nutzen
Das Leben ist nicht immer einfach. Kinder erleben Enttäuschungen, Ängste und Konflikte. Aber gerade diese Herausforderungen sind wichtig für ihre Entwicklung. Wenn Kinder lernen, mit Schwierigkeiten umzugehen, entwickeln sie Resilienz, also die Fähigkeit, Krisen zu bewältigen und gestärkt daraus hervorzugehen. Stellen Sie sich Kim vor, die nicht zum Geburtstag ihrer Freundin eingeladen wurde. Oder Helena, die Angst vor dem Zeltlager hat. In solchen Situationen können im Gehirn ähnliche Prozesse ablaufen: Eine unspezifische Erregung breitet sich aus, und im limbischen System werden vermehrt Botenstoffe ausgeschüttet, die Angst und Stress auslösen. Aber diese innere Unruhe muss nicht lange anhalten. Wenn die Mütter von Kim und Helena aktiv werden, können sie ihren Kindern helfen, mit ihren Gefühlen umzugehen und eine Lösung zu finden. Kims Mutter ruft die Mutter von Sara an, und plötzlich darf Kim doch mitfeiern. Helenas Mutter entscheidet, dass das Zeltlager vielleicht noch ein Jahr zu früh ist.
Es ist verständlich, dass wir als Mütter unsere Kinder vor Leid und Enttäuschungen bewahren wollen. Aber wir sollten ihnen nicht alle Steine aus dem Weg räumen. Kinder, die in einer „behüteten“ Kindheit aufwachsen, haben es später oft schwer, weil sie wenig Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten entwickeln. Sie lernen nicht, Probleme selbstständig zu lösen und mit Rückschlägen umzugehen. Gerald Hüther betont, dass Kinder vielfältige, immer wieder neue Aufgaben brauchen, um die Erkenntnis zu entwickeln: „Ich war in Schwierigkeiten, kam aber selbst wieder raus.“ Das kann zum Beispiel bedeuten, dass man dem Kind hilft, sein eigenes Modellbauauto zusammenzubauen, anstatt es ihm fertig hinzustellen. Oder dass man gemeinsam mit dem Kind überlegt, wie es sich gegen einen Jungen wehren kann, der ihm auf dem Schulweg die Mütze vom Kopf gezogen hat, anstatt den Jungen selbst zu beschimpfen.
Angst als Entwicklungshemmnis
Angst ist ein Gefühl, das jeder Mensch kennt. Aber wenn Angst übermächtig wird, kann sie die Entwicklung des Gehirns beeinträchtigen. Stellen Sie sich vor, die fünfjährige Jana sollte eigentlich mit einer Freundin in den Urlaub fahren, aber dann bekommt sie Fieber. Ihre Mutter gerät in Panik, weil sie ein wichtiges Projekt abschliessen muss. Sie sagt Sätze wie: „Wie soll ich jetzt nur den Auftrag hinbekommen? Soll ich nachts arbeiten? Was, wenn der Auftraggeber abspringt? Wie sollen wir dann die neue Waschmaschine bezahlen?“ Diese Fragen haben wenig mit Vernunft und viel mit Gefühl zu tun. Im Gehirn von Janas Mutter würde man jetzt eine erhöhte Aktivität im limbischen System feststellen, während das Frontalhirn, die Bewusstseinsschicht, blockiert wäre. Normalerweise kann ein Erwachsener in einer solchen Situation auf seine Erfahrungen zurückgreifen und einen Plan B entwickeln. Aber Kinder haben diese Fähigkeit noch nicht. Sie müssen erst die notwendigen Verschaltungen im Gehirn entwickeln. Und unter Angst und Druck geht das nicht. Das Problem ist, dass sich die Panik der Mutter auf Jana überträgt. Und diese Panik wird in ähnlichen Situationen immer wieder hochkommen, es sei denn, die Mutter wirkt dem aktiv entgegen, zum Beispiel durch eine liebevolle Umarmung oder durch das Geständnis: „Ich hab da wohl ein bisschen überreagiert.“
Wenn dies nicht geschieht, werden die Angstbahnen im limbischen System immer breiter, und es bilden sich kaum Verschaltungen zur Bewusstseinsebene, die nötig sind, um die Angst wieder in den Griff zu kriegen. Dadurch können Panik und Selbstzweifel übermächtig werden, manchmal ein ganzes Leben lang. Es ist daher wichtig, dass wir als Mütter auf unsere eigene Gefühlslage achten und versuchen, Stress und Angst nicht auf unsere Kinder zu übertragen. Wir sollten ihnen zeigen, dass es normal ist, Angst zu haben, aber dass man lernen kann, mit ihr umzugehen.
Hirnforscher und Pädagogen sind sich einig: Neue Lernerfahrungen werden unter liebevollen, respektierenden Umständen besonders gut mit bereits vorhandenem Wissen verknüpft und besser im Gedächtnis verankert. Liebevolle Erziehung bedeutet, Kinder von Anfang an als kleine Persönlichkeiten zu behandeln und ihnen zu helfen, ihre Gefühle und Erfahrungen einzuordnen. Es bedeutet, ihnen Orientierung zu geben, aber sich dabei am Kind zu orientieren. Es geht nicht darum, dass Kinder zum Abziehbild elterlicher Wünsche werden. Wer liebt, lässt Kinder ihren Lernstoff selbst bestimmen, hebt sie nicht dauernd auf die Rutsche, sondern wartet, bis sie von selbst hinaufwollen, antwortet feinfühlig auf Fragen, aber hört auf zu erzählen, wenn keine weiteren Fragen kommen. Jedes Kind hat sein eigenes Tempo, seine eigene individuelle Art, sich Dinge zuzutrauen, sich für Themen zu interessieren. Die Indianer sagen: „Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.“
Fazit
Die Erkenntnisse der modernen Hirnforschung haben unseren Blick auf die Entwicklung unserer Kinder grundlegend verändert. Wir wissen heute, dass das Gehirn eines Kindes formbarer ist als lange gedacht und dass Erfahrungen die Gehirnstruktur nachhaltig prägen. Als Mütter spielen wir eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung dieser Entwicklung. Es geht nicht darum, unsere Kinder mit Förderprogrammen zu überlasten oder sie vor allen Schwierigkeiten zu bewahren. Vielmehr geht es darum, ihnen eine liebevolle und unterstützende Umgebung zu bieten, in der sie ihre eigenen Interessen entdecken, ihre Fähigkeiten entfalten und ihre Resilienz entwickeln können. Indem wir ihnen die Möglichkeit geben, Herausforderungen zu meistern, ihre Fantasie zu entfalten und ihre Gefühle zu verstehen, legen wir den Grundstein für ein glückliches und erfülltes Leben.
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