In jener Nacht, als ich in einem kleinen italienischen Restaurant saß, wusste ich noch nicht, dass diese Begegnung mich lange beschäftigen würde. Das sanfte Kerzenlicht tanzte auf dem Tisch, der Duft von frischem Basilikum und Knoblauch erfüllte den Raum, und leise Jazzmusik umhüllte die Gespräche der anderen Gäste wie eine warme Decke. Es sollte ein romantischer Abend werden – ein seltener Moment der Zweisamkeit mit meinem Mann, ohne Kinderlachen, ohne ´Mama, schau mal!´ und ohne die alltäglichen Pflichten, die das Familienleben mit sich bringt.
Dann stand er plötzlich neben mir. Ein kleiner Junge mit blonden Haaren und Wangen, die vor Aufregung glühten. ´Hallo, ich bin der Tobi´, verkündete er stolz und kletterte ungefragt auf den freien Stuhl an unserem Tisch. Mein Blick wanderte zu seinen Eltern, die am Nachbartisch saßen, doch sie waren zu sehr in ihre Speisekarten vertieft, um den Ausflug ihres Sohnes zu bemerken.
Mit einem freundlichen Lächeln nahm ich den kleinen Ausreißer bei der Hand und brachte ihn zu seinen Eltern zurück. ´Hier ist Ihr kleiner Entdecker´, sagte ich so höflich wie möglich. Die Antwort der Mutter kam prompt: ´Unser Tobi ist sehr neugierig. Er mag nicht gern auf seinem Stuhl sitzen und geht lieber auf Entdeckertour. Das ist ja auch wichtig für seine Entwicklung.´
Ich nickte höflich und kehrte zu meinem Tisch zurück, zu meinem geduldigen Mann und den mit Schinken umwickelten Melonenstücken, die auf mich warteten. Doch die Ruhe währte nicht lange. Es dauerte keine fünf Minuten, bis Tobi zurückkehrte – diesmal krabbelte er unter unseren Tisch, zog an der weißen Damastdecke und kreischte vor Vergnügen. Sein Gesicht war mit Tomatensauce verschmiert, und er spielte begeistert Verstecken. ´Guck mal, wo bin ich?´
Während ich versuchte, meine Fassung zu bewahren, bemerkte ich die Reaktionen der anderen Gäste: Eine junge Frau am Tisch gegenüber warf mir einen mitleidigen Blick zu, ein älteres Ehepaar schüttelte entrüstet den Kopf. Nur Tobis Eltern schienen völlig unbeeindruckt – sie waren damit beschäftigt, den zwei jüngeren Geschwistern hinterherzuräumen, die johlend Besteck und Servietten auf den Boden warfen.
Die unausgesprochene Ambivalenz des Elternseins
Nach mehreren Minuten des inneren Ringens fasste ich mir ein Herz. Mit ruhiger Stimme, aber bestimmt, ging ich zum Nachbartisch: ´Entschuldigen Sie die Störung. Könnten Sie bitte Ihr Kind unter unserem Tisch hervorholen? Wir würden sehr gern ungestört essen und den Abend genießen.´
Was folgte, war ein Moment, der sich in mein Gedächtnis eingebrannt hat. Die Mutter starrte mich an, als hätte ich vorgeschlagen, ihre Kinder in Käfige zu sperren. ´Das sind doch nur Kinder. Soll ich die etwa anbinden und ihnen den Mund zupflastern?´
Ich versuchte, einen konstruktiven Vorschlag zu machen: ´Vielleicht könnten Sie ihnen ein Bilderbuch oder Steckpuzzle…´ Doch sie ließ mich nicht ausreden.
´Ja klar, ich nehme das halbe Kinderzimmer mit ins Restaurant´, unterbrach sie mich scharf. ´Was meinen Sie denn, wie lange das Interesse an so einem Puzzle anhält, hm?´
Mit einer theatralischen Geste zog sie ihren Sohn unter unserem Tisch hervor und setzte ihn auf ihren Schoß. ´Du musst jetzt bei Mama bleiben.´ Dann zeigte sie anklagend auf mich: ´Diese Frau da, die mag keine Kinder!´ Ihrem Mann flüsterte sie – laut genug, dass ich es hören konnte – zu: ´Wahrscheinlich ist das auch wieder so eine frustrierte kinderlose Zicke.´
Ich schluckte. Diese ´frustrierte kinderlose Zicke´ war und bin in Wirklichkeit eine Mutter von vier Söhnen. Vier wunderbare, energiegeladene Jungs, die ich über alles liebe. Und gerade deswegen hatte ich mich auf diese seltene Auszeit mit meinem Partner gefreut – einmal ohne Kinderlärm, ohne Streitschlichten, ohne die ständige Bereitschaft, die das Muttersein erfordert.
Bin ich egoistisch, wenn ich mir ab und zu kinderfreie Zonen wünsche? Bin ich intolerant, wenn ich manchmal einfach nur Ruhe haben möchte? Diese Fragen begleiteten mich auf dem Heimweg, und sie begleiten mich noch heute, wenn ich über die gesellschaftlichen Erwartungen an Eltern – besonders an Mütter – nachdenke.
Die Wahrheit über das Elternsein ist vielschichtiger als das Idealbild: Wir können unsere Kinder grenzenlos lieben und trotzdem manchmal Momente der Ruhe und des Alleinseins brauchen – ohne uns dafür schuldig fühlen zu müssen.
Ich erinnere mich an die Neunziger Jahre, als mein ältester Sohn noch klein war. Ein unfassbares Energiebündel, dessen Kraft für drei Einjährige gereicht hätte. An einem besonders anstrengenden Freitagabend lag ich erschöpft inmitten des Chaos im Kinderzimmer auf dem Fußboden und kämpfte mit den Tränen, während mein Sohn vergnügt auf mir herumturnte. Als mein Mann nach Hause kam, übergab ich ihm das Kind und zog mich ins Bett zurück, um einfach nur zu weinen.
Eine Woche später tat ich etwas, das ich mir vorher nie erlaubt hätte: Ich fuhr für vierundzwanzig Stunden allein in die Lüneburger Heide. Lesen, spazieren gehen, essen, schlafen – nicht sprechen. Als ich am nächsten Tag zurückkehrte, fühlte ich mich wie neugeboren, mit aufgeladenen Batterien und voller Vorfreude auf meine Familie.
Doch von außen erntete ich für diese kleine Flucht vor allem Unverständnis. ´Wie kannst du nur ohne deine Familie wegfahren?´, fragten andere Mütter vorwurfsvoll. ´Hat dein Sohn dich nicht schrecklich vermisst?´ Oder: ´Ich würde ja nie ohne meine Familie wegfahren.´ Als wäre mir das Wegfahren leichtgefallen! Als hätte ich nicht mit Schuldgefühlen gekämpft!
Aber müssten gerade andere Mütter nicht am besten verstehen, wie herausfordernd der Alltag mit Kindern manchmal sein kann? Wie schwierig es ist, die eigenen Bedürfnisse zu ignorieren, während man gleichzeitig versucht, ein Kind davon abzuhalten, Hundefutter zu essen, CDs als Frisbees zu verwenden oder vom Fensterbrett zu stürzen?
Das unausgesprochene Tabu: Wenn Eltern nach Freiräumen suchen
Ich war keineswegs immun gegen die Vorwürfe, die mein Gewissen trafen. Die gesellschaftliche Botschaft ist klar: Eine liebende Mutter tut so etwas nicht! Trotzdem habe ich mir über die Jahre, mit zwei, drei und schließlich vier Kindern, immer wieder kleine Auszeiten gegönnt. Nicht weil ich meine Kinder weniger liebte, sondern weil ich danach mit neuer Energie und Freude Mutter sein konnte.
Ich nahm mir diese ´Me-Time´ auch, weil ich eben nicht nur Mutter bin. Ich bin auch Frau, Partnerin, Freundin, Kollegin, ein Mensch mit eigenen Bedürfnissen und Träumen. Doch wer sich öffentlich dazu bekennt, dass ihn Kinder manchmal auch stören oder überfordern, landet heute schnell in einer Schublade – als lieblos, egoistisch oder kinderfeindlich abgestempelt.
Eine befreundete Hotelmanagerin erzählte mir einmal von ihren Erfahrungen, nachdem sie ihr Hotel auf ´Adults only´ umgestellt hatte: ´Sie ahnen nicht, was diese Entscheidung für einen Shitstorm ausgelöst hat. Ich werde per E-Mail sogar als ‚blöde Sau‘ und ‚Kinderhasserin‘ beschimpft, obwohl ich selbst vier Kinder habe. Und wissen Sie, was das Verrückteste ist? Bei mir fragen besonders viele Eltern an, die mal ein paar Tage Urlaub ohne ihren Nachwuchs verbringen wollen.´
Diese Erzählung berührte mich auf zwei Ebenen: Einerseits war es beruhigend zu wissen, dass ich nicht die einzige Mutter war, die sich manchmal nach kinderfreien Zeiten sehnte. Andererseits erschreckte mich die Heftigkeit der Reaktionen auf ein simples Angebot für Erwachsene.
Ich verstehe das Problem ehrlich gesagt nicht. In Deutschland gibt es unzählige Orte, die speziell auf Kinder ausgerichtet sind – Familiencafés, Spielplatzrestaurants, Freizeitparks und familienfreundliche Hotels. Und an solchen Orten habe ich mich mit meinen eigenen Kindern immer viel wohler gefühlt als in Restaurants, wo ich ständig auf der Hut sein musste, dass sie nicht die anderen Gäste störten.
Was steckt hinter dieser emotionalen Aufladung des Themas? Ein Vergleichsversuch: Wenn ich einer Freundin den Kaffee-Nachmittag absage, weil ich Ruhe brauche, würde niemand auf die Idee kommen, deshalb das Konzept der Freundschaft infrage zu stellen. Warum aber kochen die Gemüter so schnell hoch, wenn es um Kinder geht? Warum ist Eltern – besonders Müttern – beim Thema Kinder keinerlei Zwiespältigkeit erlaubt?
Elternsein ist kein Entweder-Oder: Man kann seine Kinder grenzenlos lieben und trotzdem Momente der Erschöpfung erleben, in denen man sich nach Ruhe und Abstand sehnt – beides gehört zur authentischen Erfahrung des Elternseins dazu.
Früher habe ich mich manchmal zwischen den tobenden Jungs aus Verzweiflung im Gästeklo eingeschlossen, um in Ruhe mit einer Freundin zu telefonieren. Ich bin nicht allein mit solchen Fluchtimpulsen. Ich habe Väter erlebt, die sich mit Laptop oder Buch dort einschlossen, um einen Moment der Stille zu finden. Einmal klopfte ich sogar besorgt an die WC-Tür, weil mein Mann über eine Stunde verschwunden war – ich fürchtete schon, er hätte einen medizinischen Notfall.
Ein befreundeter Vater gestand mir kürzlich: ´Es gibt Tage, da bin ich so erschöpft von der Arbeit, dass ich keine Kraft mehr für die Kinder habe. Dann fahre ich nach Feierabend so lange um den Block, bis im Kinderzimmer das Licht ausgegangen ist.´ Er flüsterte es mir zu, als würde er ein schreckliches Geheimnis teilen.
Ist es in solchen Situationen nicht völlig normal, sich manchmal nach einer ordentlichen Wohnung zu sehnen? Nach einem kinderfreien Nachmittag im Café? Nach einer Stunde in der Badewanne, ohne dass jemand nach dir ruft?
Ich liebe unseren Jagdhund Carlo von ganzem Herzen. Aber wenn er den Mülleimer auseinandernimmt, während ich in der Badewanne liege, und die Küche hinterher aussieht wie ein Schlachtfeld, überkommen mich kurzfristig Gefühle, über die ich selbst erschrecke. Bis wir am Abend wieder zusammen auf dem Sofa liegen und ich seine warme Schnauze auf meinem Schoß spüre.
Leben im Spannungsfeld: Die Kunst der Ambivalenz
Ambivalenzkonflikt nennt sich das, was ich hier beschreibe. Ich las darüber in einem Magazin und erfuhr, wie vielfältig solche inneren Widersprüche sein können: Ich möchte gesünder leben, kann aber nicht auf meine Schokolade verzichten. Ich sehne mich nach einem Partner, habe aber gleichzeitig Angst, meine Freiheit zu verlieren. Ich möchte Karriere machen, aber auch mehr Zeit für die Familie haben.
Bei mir gehört dazu: Ich möchte unbedingt mit Kindern leben, brauche aber auch meinen individuellen Freiraum. Warum werden, was Kinder angeht, diese widersprüchlichen Gefühle weniger toleriert als in anderen Lebensbereichen? Warum gilt beim Thema Kinder oft das Prinzip ´Alles oder nichts´? Entweder ich bekenne mich ohne jegliches Murren zum gesamten Kinderpaket, oder ich entscheide mich komplett dagegen.
Die zentrale Erkenntnis aus dem Artikel war: Nicht alle Fragen oder Zwiespalte unseres Lebens lassen sich auflösen. Wir müssen lernen zu akzeptieren, dass es im echten Leben Situationen und Gefühle gibt, für die keine Patentlösung existiert. Auch wenn in unseren Köpfen irgendwo tief vergraben noch das alte Rollenbild rumdümpelt: Eltern, besonders Mütter, sind stets aufopferungsbereit und denken zuletzt an sich selbst.
Ich erinnere mich noch gut an den Moment, als ich mit meinem ersten Baby im Arm den Kreißsaal verließ. Verklärt und überwältigt von Glück und Hormonen war ich bereit, mein Mutter-Märchen zu leben: Und die Königinmutter liebte ihr Kind bedingungslos bis ans Ende ihrer Tage. Doch nachdem die Flut der Glückshormone abebbte, landete ich bald in der Realität: schlaflose Nächte, immer dunklere Augenringe und ein Mann, der immer öfter aufs Sofa flüchtete, um wenigstens ein paar Stunden Schlaf zu finden.
Zwischen Wickeltisch und Windeleimer spürte ich plötzlich: Ich bin ja auch noch da! Ich wollte wieder Sekt trinken, mit Freundinnen tanzen gehen und mit meinem Partner unsere Liebe feiern – sei es beim romantischen Abendessen oder im Schlafzimmer. Und trotzdem gab es nie, nicht einen einzigen Moment, in dem ich meine Mutterschaft bereut hätte.
Warum sollten Frauen durchs Kinderkriegen zu Heiligen werden? Zu makellosen Supermüttern, die ohne Schlaf, ohne Partner, ohne Sex, mit Fieber und Milchflecken auf der Bluse nie müde, immer präsent, immer zufrieden und glücklich sind? Diese Erwartung ist nicht nur unrealistisch – sie ist gefährlich. Sie führt zu Erschöpfung, zu Schuldgefühlen und zur Selbstaufgabe.
Wichtig ist doch nur, hinzuschauen, die Bedürfnisse anderer Menschen zu tolerieren und gleichzeitig auf die eigenen zu hören. Manchmal finde ich es wunderbar, wenn meine Jungs bis spät am Abend bei einer Freundesrunde dabei sind. Ein andermal genieße ich die Zweisamkeit mit einer Freundin, meinem Partner oder auch eine Auszeit ganz für mich allein.
Denn irgendwo zwischen den Extremen, zwischen ´pro´ und ´kontra´ Kindern im Restaurant, zwischen bedingungsloser Aufopferung und Selbstfürsorge – genau dort findet das echte, lebendige Leben statt. Mit all seinen Widersprüchen, Herausforderungen und seiner unfassbaren Schönheit.
Als ich an jenem Abend im italienischen Restaurant mit meinem Mann nach Hause fuhr, waren wir beide still. Der romantische Abend war anders verlaufen als geplant. Und doch hatte er mir etwas Wichtiges gezeigt: dass ich nicht allein bin mit meinen gemischten Gefühlen. Dass es okay ist, manchmal eine Pause zu brauchen. Dass es möglich ist, seine Kinder über alles zu lieben und trotzdem ab und zu von ihnen genervt zu sein.
Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir ehrlicher über die Ambivalenzen des Elternseins sprechen – ohne Scham, ohne Schuldgefühle und mit dem Wissen, dass gerade in dieser Ehrlichkeit eine tiefe Form der Liebe liegt. Eine Liebe, die nicht nur den anderen gilt, sondern auch uns selbst.