In der kleinen Wohnung im dritten Stock eines Altbaus in Stuttgart-West klingt leise Gitarrenmusik. Nica Neulich sitzt am Küchentisch, eine Tasse dampfenden Kaffee vor sich, und lächelt, als ihre fünfjährige Tochter Mia mit einem bunten Bilderbuch unter dem Arm ins Zimmer stürmt. ´Mami, schau mal! Die Prinzessin fährt Rennwagen!´ ruft sie begeistert und deutet auf eine Illustration, die tatsächlich eine königliche Gestalt in einem feuerroten Rennwagen zeigt. Nica nickt anerkennend und streicht ihrer Tochter liebevoll über den Kopf. ´Siehst du´, sagt sie leise zu mir, ´genau darum geht es.´
Nica Neulich ist nicht nur Mutter, sondern auch Musikerin. Mit ihrem Album ´Die Gitarre mit ins Bett´, das im Pride Month 2022 erschienen ist, möchte sie Kinderlieder in die Welt bringen, die die Vielfalt des Lebens widerspiegeln. In einer Welt, in der Kindermedien oft noch von starren Rollenbildern geprägt sind, setzt sie ein Zeichen für Diversität und Offenheit.
Während wir uns unterhalten, huscht Mia immer wieder durch den Raum, mal mit einer Spielzeugdino in der Hand, mal mit einem Glitzerstift, mit dem sie auf einem Blatt Papier konzentriert malt. Das Leben einer Regenbogenfamilie, wie Nica es mit ihrer Partnerin und ihrer Tochter führt, unterscheidet sich im Alltag kaum von dem anderer Familien. Und doch ist es anders – denn in den Medien, den Liedern, den Büchern, die Kinder konsumieren, kommen Familien wie ihre selten vor.
Die unsichtbare Kraft der Kinderlieder
Ich begleite Nica an einem sonnigen Vormittag zu einem ihrer Auftritte in einem Stuttgarter Kindergarten. Auf dem Weg erzählt sie mir von ihrer eigenen Kindheit, von den Kassetten, die sie damals rauf und runter gehört hat. ´Die Texte kann ich heute noch auswendig´, lacht sie, ´obwohl ich mich kaum noch an die Musik selbst erinnere.´ Genau das ist es, was Kinderlieder so mächtig macht: Sie brennen sich ins Gedächtnis ein, prägen unbewusst Weltbilder und Vorstellungen.
Im Kindergarten angekommen, sitzt bald eine Schar aufgeregter Kinder im Kreis um Nica herum. Sie hat ihre Gitarre dabei, deren Gurt mit kleinen Regenbogenbuttons verziert ist. Ihr Sidecut leuchtet in den Farben des Regenbogens – ein subtiles Statement, das die Kinder mit Begeisterung aufnehmen. ´Deine Haare sind so schön bunt!´, ruft ein kleines Mädchen mit Zöpfen. Nica lächelt und stimmt ihre Gitarre.
Als sie zu spielen beginnt, wird es still im Raum. Ihre warme Stimme füllt den Kindergarten, als sie von einem Jungen singt, der seinen Glitzerstift liebt, und einem Mädchen mit einem Piratenschiff. Die Kinder hören gebannt zu, wippen im Takt, singen die einfachen Refrains nach kurzer Zeit mit. Besonders aufmerksam werden sie, als Nica ein Lied anstimmt, in dem von ´Mama und Mami´ die Rede ist. Ein kleiner Junge mit Brille schaut verwundert, dann strahlt er. ´Wie bei Liam aus meiner Gruppe!´, ruft er aufgeregt und zeigt auf einen anderen Jungen, der verlegen lächelt.
Genderneutrale Erziehung ist wie das Navigieren durch ein Labyrinth gesellschaftlicher Erwartungen – man braucht Geduld, Reflexion und die Bereitschaft, festgefahrene Denkmuster zu hinterfragen.
Nach dem Auftritt, während die Kinder in den Garten stürmen, nimmt sich Nica Zeit, mit mir zu sprechen. ´Hast du gesehen, wie der kleine Junge reagiert hat?´, fragt sie. ´Genau darum geht es mir. Es gibt so viele Kinder, die sich in den klassischen Medien nicht wiederfinden. Kinder mit zwei Mamas oder zwei Papas, Kinder mit Brille, Kinder of Color, Kinder mit Behinderungen – sie alle verdienen es, repräsentiert zu werden.´
Dabei betont Nica, dass sie klassische Rollenbilder nicht per se problematisch findet. ´Es geht nicht darum, alles Traditionelle zu verteufeln´, erklärt sie, während sie ihre Gitarre behutsam im Koffer verstaut. ´Es geht darum, Alternativen anzubieten und Kindern zu zeigen, dass es viele verschiedene Arten gibt, in der Welt zu sein.´
Auf dem Rückweg zu ihrer Wohnung erzählt Nica von den Herausforderungen einer genderneutralen Erziehung. ´Man lebt ja nicht in einer Blase´, seufzt sie. ´Selbst wenn du zu Hause versuchst, keine Stereotypen zu reproduzieren – dein Kind geht in den Kindergarten, schaut Fernsehen, liest Bücher, hört Musik. Es gibt so viele Einflüsse, auf die man keinen Einfluss hat.´
Das klingt nach einem Kampf gegen Windmühlen. Doch Nica ist keine Idealistin, die glaubt, die Welt mit einem Lied verändern zu können. Sie ist Pragmatikerin. ´Man kann als Elternteil viel steuern´, sagt sie. ´Man kann mit seinem Kind über Inhalte sprechen, kann ihm helfen, Klischees zu erkennen und einzuordnen. Wenn in einem Lied ein Junge über den Fußballplatz rennt und Tore schießt, kann man darüber sprechen, dass ein Mädchen das genauso gut könnte.´
Zwischen Tradition und Fortschritt
Zurück in ihrer Wohnung zeigt Nica mir ihr Arbeitszimmer, in dem sie ihre Lieder komponiert. An der Wand hängen bunte Zettel mit Textfragmenten, Melodieideen, Konzepten für neue Songs. ´Oft habe ich zuerst eine Hookline im Kopf´, erklärt sie, ´also Zeilen, die sich später zum Refrain ausbauen. Die sind oft schon mit einer Melodie verbunden.´ Dann beginnt die eigentliche Arbeit: das Finden von Metaphern, das Ausformulieren des Textes – und das bewusste Vermeiden von Klischees.
´Das ist nicht immer einfach´, gibt Nica zu. ´Man ist so geprägt von den eigenen Erfahrungen und dem, was man selbst als Kind gehört und gesehen hat. Manchmal ertappe ich mich dabei, wie ich unbewusst doch wieder in Stereotypen denke.´ Sie lacht leise. ´Es ist ein ständiger Prozess des Reflektierens und Hinterfragens.´
Dieser Prozess scheint sich zu lohnen. Die Resonanz auf ihre Musik ist überwiegend positiv, erzählt Nica, während sie uns beiden Tee einschenkt. ´Die Kinder sind ohnehin super offen. Für sie ist es völlig normal, dass es verschiedene Familienkonstellationen gibt, dass Mädchen Piratin und Jungen Prinz sein können. Es sind eher die Erwachsenen, die manchmal ihre Schwierigkeiten haben.´
Doch auch bei den Eltern stößt Nica selten auf Ablehnung. ´Es hat noch kein Kindergarten gesagt, dass man mich wegen meiner sexuellen Orientierung nicht engagieren möchte´, erzählt sie. ´Ich gehe davon aus, dass so etwas – zumindest als Künstlerin – kein Problem mehr darstellt.´
Genderneutrale Erziehung ist wie das Navigieren durch ein Labyrinth gesellschaftlicher Erwartungen – man braucht Geduld, Reflexion und die Bereitschaft, festgefahrene Denkmuster zu hinterfragen.
Dennoch ist Nica bewusst, dass die Gesellschaft noch nicht an dem Punkt angekommen ist, an dem queere Lebensweisen vollständig akzeptiert sind. ´Viele Dinge sind mittlerweile rechtlich gleichberechtigt, aber es ist trotzdem noch nicht gesamtgesellschaftlich ’normal’´, sagt sie nachdenklich. ´Es gibt immer noch politische Baustellen, für die es sich lohnt, aufzutreten und Sichtbarkeit zu schaffen.´
Genau deshalb engagiert sich Nica nicht nur musikalisch, sondern auch politisch für die Rechte von LGBTQ+-Menschen. Sie ist Mitglied beim Lesben- und Schwulenverband Baden-Württemberg und organisiert Themenabende für Regenbogenfamilien. ´Es ist wichtig, dass Kinder wie meine Tochter in einer Welt aufwachsen, in der sie sich nicht für ihre Familie rechtfertigen müssen´, sagt sie mit Nachdruck.
Während wir sprechen, kommt Mia ins Zimmer getapst, auf dem Arm ein Bilderbuch. ´Liest du mir vor?´, fragt sie ihre Mutter. Nica nimmt ihre Tochter auf den Schoß und schlägt das Buch auf. Es handelt von einem kleinen Bären, der zwei Papas hat und mit ihnen auf Abenteuerreise geht. ´Siehst du´, sagt Nica leise zu mir, während Mia gebannt auf die bunten Bilder schaut, ´so einfach kann es sein.´
Der sanfte Wandel in der Kindermusikszene
Als ich Nica am nächsten Tag in einem kleinen Café in der Stuttgarter Innenstadt treffe, ist sie gerade von einem Telefonat mit einer Kollegin zurückgekehrt. ´Suli Puschban´, erklärt sie, ´eine weitere Kinderliederautorin, die wunderbare Arbeit im Bereich Diversität leistet.´ Sie nimmt einen Schluck von ihrem Cappuccino und lächelt. ´Ich bin nicht allein mit meinem Anliegen, das ist das Schöne. Es gibt mittlerweile eine ganze Bewegung in der Kindermusikszene.´
Dennoch bleibt die Reichweite dieser progressiven Künstler:innen oft begrenzt. ´Das Problem ist, dass diese ganze Musikszene in der breiten Masse relativ unbekannt ist´, erklärt Nica. ´Über die Streamingdienste werden immer wieder die Sachen aufgerufen, die Klischees reproduzieren.´ Sie seufzt leise. ´Es ist auch eine Frage der sozialen Blase, in der man sich bewegt. In meinem Umfeld ist es den Eltern wichtig, auf solche Dinge zu achten – aber schaut man über den eigenen Freundeskreis hinaus, ist das für viele Menschen kein Thema.´
Tradition spielt dabei eine wichtige Rolle. ´Was man selbst von früher kennt, setzt man natürlich gerne auch den eigenen Kindern vor´, sagt Nica. ´Und das ist ja auch etwas Schönes, wenn sich Kinderlieder quasi vererben.´ Sie macht eine kurze Pause und rührt nachdenklich in ihrem Kaffee. ´Aber dadurch darf die gesellschaftliche Entwicklung nicht stehen bleiben. Es dürfen nicht Dinge reproduziert werden, die eigentlich schon längst veraltet sind.´
Auf dem Heimweg von unserem Treffen denke ich über Nicas Worte nach. Ihre Botschaft ist eigentlich ganz einfach: Es geht nicht darum, alles Traditionelle über Bord zu werfen, sondern das Spektrum zu erweitern. Es geht darum, allen Kindern die Möglichkeit zu geben, sich in Geschichten, Liedern und Bildern wiederzufinden – unabhängig davon, wie sie aussehen, wen sie lieben oder wie ihre Familie zusammengesetzt ist.
Vielleicht liegt genau darin die Kraft von Nicas Arbeit: Sie revolutioniert nicht, sie ergänzt. Sie fügt dem Kanon der Kinderlieder neue Perspektiven hinzu, ohne die alten zu verdammen. Und sie tut dies mit einer Leichtigkeit und Freude, die ansteckend wirkt – nicht nur auf die Kinder, die ihre Lieder hören, sondern auch auf die Erwachsenen, die bereit sind, alte Denkmuster zu hinterfragen.
Als ich am Abend noch einmal mit Nica telefoniere, um ein paar letzte Details zu klären, höre ich im Hintergrund Mias Stimme, die ein Lied singt – eines von Nicas Liedern, in dem es um ein Mädchen geht, das Skateboard fährt und davon träumt, einmal den Mond zu besuchen. ´Siehst du´, sagt Nica leise, ´genau darum geht es. Um Träume ohne Grenzen.´