Lesefreude fördern: So helfen Eltern ihren Kindern beim Lesen

Die Welt verändert sich rasant, und mit ihr die Art und Weise, wie unsere Kinder lernen und sich Wissen aneignen. Stell dir vor, du sitzt mit deinem Kind am Küchentisch, eine dicke Ausgabe von „Stolz und Vorurteil“ liegt vor euch. Doch statt in die Welt von Elizabeth Bennet einzutauchen, kämpft ihr mit dem Text, weil dein Kind Mühe hat, sich auf die lange Geschichte zu konzentrieren. Immer mehr Eltern und Pädagogen beobachten mit Sorge, dass die Fähigkeit und Bereitschaft junger Menschen, sich auf längere Leseinhalte einzulassen, schwindet. Aber warum ist das so?

Der Wandel im Klassenzimmer: Von langen Büchern zu kleinen Häppchen

Früher war es selbstverständlich, dass Schülerinnen und Schüler Klassiker der Literatur wie „Herr der Fliegen“ oder eben „Stolz und Vorurteil“ in voller Länge lasen. Heute sieht der Unterricht oft anders aus. Der Fokus liegt vermehrt auf kürzeren Textpassagen und dem Erfassen von Hauptideen. L’Taundra Everhart, eine Expertin für Bildung und Wohlbefinden, erklärt, dass dies dem Trend geschuldet ist, Lerninhalte „bekömmlicher“ zu machen, indem man sie in kleine, leicht verdauliche Stücke zerlegt. Das klingt zunächst einmal nicht schlecht, oder? Aber was bedeutet das für die Entwicklung unserer Kinder?

Ein Grund für diese Entwicklung liegt in der Bildungspolitik der letzten Jahrzehnte. Lightning Jay, Professor an der Binghamton University, verweist auf den „No Child Left Behind Act“ in den USA, der das Ziel hatte, die schulischen Leistungen aller Schüler zu verbessern. Ein Nebeneffekt dieser Politik war jedoch, dass standardisierte Tests immer wichtiger wurden. Und wie Jay treffend feststellt: „Was leicht zu messen ist und was wertvoll zu lernen ist, sind oft Gegensätze.“ Es ist einfacher, das Verständnis eines kurzen Textabschnitts mit einem Multiple-Choice-Test zu überprüfen als das umfassende Verständnis eines komplexen Werkes wie Homers Odyssee.

Theresa Rosenberg, Professorin für Englisch am Lebanon Valley College, bestätigt diesen Eindruck: „Es scheint, dass unser öffentliches Bildungssystem das Lesen langer Romane zugunsten von Konzepten, die leicht in standardisierten Tests bewertet werden können, abgewertet hat.“ Natalie Wexler, Autorin des Buches „The Knowledge Gap“, ergänzt, dass der Unterricht zunehmend dem Format der Tests angepasst wurde: Kurze Textauszüge, gefolgt von Verständnisfragen. Das Ergebnis: Schülerinnen und Schüler verlernen, sich auf längere Texte zu konzentrieren und komplexe Zusammenhänge zu erfassen.

Der Lehrplan ist vollgepackt, die Zeit ist knapp. Da bleibt das Lesen ganzer Bücher oft auf der Strecke, bedauert Jethro Jones, ehemaliger Schulleiter und Autor. „Weil es schwierig ist und so viel Unterrichtszeit kostet, ein ganzes Buch zu lesen, wurde es leicht fallen gelassen, um die Testziele zu unterstützen“, sagt er. Ein Teufelskreis entsteht: Um in den Tests gut abzuschneiden, werden kurze Textpassagen bevorzugt, was wiederum die Fähigkeit zum Lesen längerer Texte untergräbt.

Der Einfluss der digitalen Welt: Ablenkung und schnelle Befriedigung

Neben den Veränderungen im Bildungssystem spielt auch die digitale Welt eine entscheidende Rolle. Wir leben in einer Zeit, in der Informationen in Sekundenschnelle verfügbar sind und unsere Aufmerksamkeit ständig von neuen Reizen gefordert wird. Soziale Medien und das Internet im Allgemeinen haben unsere Aufmerksamkeitsspanne verkürzt und uns an schnelle Befriedigung gewöhnt. Es ist verlockender, sich von einem endlosen Strom von Bildern, Videos und Nachrichten berieseln zu lassen, als sich in ein Buch zu vertiefen und sich auf eine längere Geschichte zu konzentrieren.

Jethro Jones bringt es auf den Punkt: „Es ist viel angenehmer, wenn unsere Endorphine ausgeschüttet werden, weil wir uns mit irgendetwas im Internet beschäftigen, als sich in ein gutes Buch zu vertiefen.“ Lightning Jay stimmt zu und ergänzt: „Lesen ist eine Form der ausgedehnten Konzentration, und viele unserer Häuser sind auf Ablenkung ausgerichtet.“ In einer Welt, in der ständig etwas blinkt, klingelt und vibriert, ist es eine Herausforderung, die nötige Ruhe und Konzentration für das Lesen zu finden.

Doch was bedeutet das alles für die Zukunft unserer Kinder? Verlieren sie nicht nur die Fähigkeit, Bücher zu lesen, sondern auch wichtige Fähigkeiten, die für ihr Leben und ihre Karriere unerlässlich sind?

Ein Kind liest ein Buch

Lesen im Fokus

Die Vorstellung, dass Kinder die Freude am Lesen verlieren, ist beunruhigend. Doch es gibt Hoffnung. Louise Baigelman, Gründerin von Storyshares, einem Verlag, der sich der Bekämpfung des globalen Analphabetismus widmet, ist überzeugt:

Ich glaube nicht, dass das Lesen zum Vergnügen jemals der Vergangenheit angehören wird. Es ist das zeitloseste Vergnügen und hat die Fähigkeit, zu bestehen.

Diese Worte sind ein Aufruf an uns alle, die Bedeutung des Lesens neu zu entdecken und unseren Kindern die Freude daran zu vermitteln.

Der Dominoeffekt: Wie mangelnde Lesefähigkeit andere Kompetenzen beeinträchtigt

Die Auswirkungen des Rückgangs der Lesefreude und -fähigkeit sind weitreichender als man vielleicht zunächst annimmt. Experten beobachten einen deutlichen Rückgang in verwandten Bereichen wie Schreiben, Wortschatz und sogar Mathematik. Theresa Rosenberg hat in ihren 25 Jahren Lehrtätigkeit an Hochschulen einen „dramatischen Rückgang im Umfang des Wortschatzes“ bei Studierenden festgestellt. Sie ist überzeugt, dass dieser Verlust direkt auf den Rückgang des Lesens zurückzuführen ist.

Eric Tipler, ein Experte für Hochschulzulassungen, beobachtet, dass selbst an Eliteschulen weniger geschrieben wird. „Während Schüler vor fünf bis zehn Jahren vielleicht zwei bis drei Aufsätze pro Semester schreiben mussten, schreiben sie jetzt nur noch eine längere Arbeit pro Semester – manchmal sogar nur eine Arbeit pro Jahr“, sagt er. Das ist besorgniserregend, denn Lesen und Schreiben sind eng miteinander verbunden. Wer wenig liest, dem fällt es auch schwerer, sich schriftlich auszudrücken.

Technologie, insbesondere die Autokorrekturfunktion von Textverarbeitungsprogrammen, trägt laut Tipler ebenfalls zu dieser Entwicklung bei. Anstatt sich selbst um die richtige Schreibweise zu bemühen, verlassen sich viele Schülerinnen und Schüler auf die automatische Korrektur. Das mag bequem sein, aber es verhindert, dass sie ihren Wortschatz und ihre Rechtschreibkenntnisse verbessern.

Doch nicht nur akademische Fähigkeiten leiden unter dem Rückgang des Lesens. L’Taundra Everhart betont, dass auch soziale und emotionale Kompetenzen wie Empathie, Konzentration und kritisches Denken verloren gehen, wenn dem Lesen kein Wert beigemessen wird. Wer wenig liest, hat es schwerer, Subtext, Symbolik und Kontext zu verstehen. Das wiederum erschwert die Kommunikation und das Verständnis für andere Menschen.

Tyler Sgro, CEO von Mathnasium, einem Nachhilfeinstitut für Mathematik, ergänzt, dass mangelnde Lesefähigkeit auch das kollaborative Problemlösen und das kritische Denken beeinträchtigen, die für mathematische Fähigkeiten unerlässlich sind. Mit anderen Worten: Wer nicht gut lesen kann, hat es auch in anderen Bereichen schwerer.

Was können Eltern tun? Brücken bauen und Leselust wecken

Angesichts dieser besorgniserregenden Entwicklung stellt sich die Frage: Was können Eltern tun, um ihren Kindern die Freude am Lesen zu vermitteln und ihnen zu helfen, die notwendigen Fähigkeiten zu entwickeln? Natalie Wexler ist der Meinung, dass der Fokus auf Tests in den Schulen das Lesen zu einer lästigen Pflicht gemacht hat. Die Zahlen geben ihr Recht: Laut einer Studie aus dem Jahr 2023 gaben nur 14 % der 13-jährigen Schülerinnen und Schüler an, täglich zum Vergnügen zu lesen. Im Jahr 2012 waren es noch 27 % und im Jahr 1996 sogar 32 %.

Alice Davidson, Direktorin des Hume House College Child Development and Student Research Center am Rollins College, betont, dass die Liebe zum Lesen bereits in der frühen Kindheit beginnt. „In einer hochwertigen Vorschulumgebung kommt Ihr Kind den ganzen Tag über durch Spielen, Kleingruppenarbeit und Gesprächsrunden mit Schrift und Geschichten in Kontakt“, sagt sie. Um sicherzustellen, dass Kinder das Lesen als eine unterhaltsame und angenehme Tätigkeit erleben – und nicht als eine gefürchtete oder langweilige Aufgabe –, sollten Eltern vermeiden, sie zu zwingen, bestimmte Leseziele zu erreichen, bevor sie bereit sind.

Hier sind einige konkrete Tipps, wie Eltern die Leselust ihrer Kinder fördern können:

  • Vorbild sein: Lesen Sie selbst regelmäßig Bücher und Zeitschriften. Wenn Kinder sehen, dass ihre Eltern gerne lesen, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass sie es auch tun.
  • Eine gemütliche Leseecke einrichten: Schaffen Sie einen Ort, an dem sich Ihr Kind wohlfühlt und gerne Zeit verbringt. Das kann ein Sessel mit einer weichen Decke, ein Zelt im Kinderzimmer oder eine Hängematte im Garten sein.
  • Gemeinsam lesen: Lesen Sie Ihrem Kind vor, auch wenn es schon älter ist. Oder lesen Sie abwechselnd ein Buch und diskutieren Sie darüber.
  • Bücher passend zum Alter und Interesse auswählen: Achten Sie darauf, dass die Bücher, die Ihr Kind liest, weder über- noch unterfordern. Lassen Sie Ihr Kind selbst Bücher auswählen, auch wenn es sich dabei um Comics oder Zeitschriften handelt.
  • Lesen mit anderen Aktivitäten verbinden: Besuchen Sie eine Bibliothek oder Buchhandlung, gehen Sie zu einer Lesung oder einem Theaterstück, das auf einem Buch basiert.
  • Keinen Druck ausüben: Zwingen Sie Ihr Kind nicht zum Lesen. Das Lesen soll Spaß machen, nicht zur Strafe werden.

Es ist wichtig, dass wir als Eltern und Pädagogen gemeinsam daran arbeiten, die Freude am Lesen wiederzuentdecken und unseren Kindern die Fähigkeiten zu vermitteln, die sie für ein erfolgreiches und erfülltes Leben benötigen. Denn Lesen ist mehr als nur das Entschlüsseln von Buchstaben. Es ist eine Reise in andere Welten, eine Quelle der Inspiration und ein Schlüssel zur Bildung.

Fazit: Die Bedeutung des Lesens neu entdecken

Der Rückgang der Lesefreude und -fähigkeit bei Kindern und Jugendlichen ist ein komplexes Problem mit vielfältigen Ursachen. Veränderungen im Bildungssystem, der Einfluss der digitalen Welt und der zunehmende Fokus auf standardisierte Tests spielen dabei eine Rolle. Die Auswirkungen sind jedoch weitreichend und betreffen nicht nur akademische Fähigkeiten, sondern auch soziale und emotionale Kompetenzen. Es ist daher von entscheidender Bedeutung, dass Eltern und Pädagogen gemeinsam daran arbeiten, die Freude am Lesen wiederzuentdecken und Kindern die notwendigen Fähigkeiten zu vermitteln. Dies gelingt durch Vorbild sein, das Schaffen einer gemütlichen Leseumgebung, gemeinsames Lesen und die Auswahl altersgerechter und interessanter Bücher. Es gilt, das Lesen als eine unterhaltsame und bereichernde Aktivität zu vermitteln, ohne Druck auszuüben. Nur so können wir sicherstellen, dass unsere Kinder die Freude am Lesen nicht verlieren und von den zahlreichen Vorteilen profitieren, die das Lesen mit sich bringt.

QUELLEN

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