Wie viel Wahrheit braucht ein Kind? – Der Umgang mit Lügen in der Erziehung

In einer Welt, in der die Wahrheit oft eine flexible Größe zu sein scheint, stehen Eltern vor der kniffligen Aufgabe, ihren Kindern den Wert der Ehrlichkeit zu vermitteln. Lena, zwölf Jahre alt, ist ein typisches Beispiel. Anstatt ihren Eltern von ihrer misslungenen Mathearbeit zu erzählen, versteckt sie sie und fälscht sogar die Unterschrift ihrer Mutter. Ein Schock für die Eltern, der die Frage aufwirft: Wie viel Wahrheit können Kinder verkraften – und wie viel Lüge ist normal?

Die Grauzone der Wahrheit: Wenn Kinder zu kleinen Schwindlern werden

Die Geschichte von Lena ist kein Einzelfall. Viele Eltern kennen das Gefühl, wenn ihr Kind mit einer Notlüge um die Ecke kommt. Ob es nun darum geht, den Verzehr von Süßigkeiten vor dem Abendessen zu leugnen oder die Schuld auf einen imaginären Freund zu schieben – Kinder erfinden die Wahrheit manchmal neu. Doch warum tun sie das? Und wie sollten Eltern damit umgehen?

Kinder beobachten genau, wie Erwachsene mit der Wahrheit umgehen. Lena konfrontiert ihre Eltern mit ihren eigenen kleinen Schwindeleien: die vorgetäuschte Magenverstimmung, um den ungeliebten Besuch bei der Oma zu vermeiden, oder die Übertreibungen über den ach so luxuriösen Sommerurlaub. Kinder lernen, dass Notlügen und Beschönigungen zum sozialen Miteinander gehören. Die Hamburger Diplompsychologin Kora Krüger erklärt: „Unser soziales Gefüge würde zusammenbrechen, wenn alle Menschen sich immer und überall ehrlich sagten, was sie voneinander halten und was sie wirklich denken.“

Es ist ein Balanceakt: Einerseits sollen Kinder ehrlich sein, andererseits sollen sie artig danke sagen, auch wenn ihnen das Geschenk der Tante nicht gefällt. Eltern müssen ihren Kindern beibringen, in dieser Grauzone der Wahrheit zurechtzukommen. Sie müssen lernen, wann Ehrlichkeit angebracht ist und wann eine kleine Notlüge akzeptabel ist. Eine schwierige Aufgabe, die viel Fingerspitzengefühl erfordert.

Die magische Phase: Wenn Fantasie und Realität verschwimmen

Im Vorschulalter ist die Grenze zwischen Fantasie und Realität oft fließend. Niklas, fünf Jahre alt, erzählt von Piraten, die sein Kinderzimmer unsicher machen, oder von Streitigkeiten im Kindergarten, die in seinen Erzählungen zu handfesten Prügeleien werden. Seine Mutter ist beunruhigt, doch die Erzieherin kann die Schilderungen nicht bestätigen. Kora Krüger erklärt, dass Niklas sich in der „magischen Phase“ befindet, in der Kinder Realität und Fantasie vermischen. In diesem Alter ist es wichtig, nicht den Detektiv zu spielen, sondern mit dem Kind über seine Erlebnisse zu sprechen und herauszufinden, ob hinter den erfundenen Geschichten vielleicht kleine Probleme stecken. Oft sind diese Geschichten ein Hilferuf, ein Zeichen dafür, dass das Kind Aufmerksamkeit oder Unterstützung braucht. Es ist wichtig, dem Kind zuzuhören und ihm zu helfen, seine Gefühle auszudrücken, anstatt es für seine Fantasiegeschichten zu bestrafen.

Auch wenn Vorschulkinder noch nicht vorsätzlich lügen können, probieren sie es aus. Ein verbotenes Bonbon wird heimlich genascht und auf die Frage, wer es war, kommt ein unschuldiges „Ich war’s nicht!“. Solche kleinen Schwindeleien sind erste Versuchsballons, die meist schnell platzen, weil das schlechte Gewissen dem Kind ins Gesicht geschrieben steht. In solchen Situationen ist es wichtig, die Situation nicht unnötig aufzubauschen, sondern das Verbot zu bekräftigen und zu begründen. Mildernde Umstände sind in diesem Alter durchaus angebracht.

Die Kunst der Lüge: Wie viel ist normal?

Die Kunst der Lüge: Wie viel ist normal?

Grundschulalter: Der Kampf um mehr Freiheit

Mit dem Schuleintritt beginnt für Kinder ein neuer Lebensabschnitt. Sie werden selbstständiger und wollen mehr Freiraum. Florian, acht Jahre alt, hängt ein Schild an seine Zimmertür: „Mache Hausaufgaben, nicht stören!“. Doch als sein Vater nach einer Stunde nach dem Rechten sieht, entdeckt er, dass Florian in ein Comic-Heft vertieft ist und keine einzige Hausaufgabe erledigt hat. Ein Verhör folgt, doch Florian mauert. Sein Verhalten spricht Bände: „Lasst mir mehr Freiraum, fragt mich nicht ständig, ob ich auch die Vokabeln gelernt habe – kurz: Hört auf, mich ständig zu behandeln wie ein Kleinkind!“. Kinder wie Florian nutzen Lügen als Notwehr, um mehr Kontrolle über ihr Leben zu erlangen. Psychologin Krüger rät Eltern zu gezielten Absprachen: „Wir reden dir nicht rein, wir verlassen uns auf dich – dafür zeigst du uns abends unaufgefordert deine Hausaufgaben.“

Manche Experten sehen in Kinderlügen sogar einen Beweis für Intelligenz. Die kleinen Schwindler haben verstanden, dass es einen Unterschied zwischen Wahrheit und Unwahrheit gibt und dass sie ihre Umwelt beeinflussen können. Sie nutzen Lügen, um sich Vorteile zu verschaffen. Eine Fähigkeit, die im späteren Leben durchaus nützlich sein kann. Doch wie weit dürfen Eltern diese Fähigkeit zur Entfaltung kommen lassen?

„Mütter und Väter müssen versuchen, ihren Nachwuchs inmitten einer Welt von Ausreden, Halb- und Unwahrheiten zu vertrauenswürdigen Menschen zu erziehen.“

Die Frage ist, wie man als Elternteil in dieser Phase am besten reagiert. Einerseits möchte man dem Kind Freiraum geben und ihm vertrauen, andererseits muss man sicherstellen, dass es seine Pflichten erfüllt. Es ist wichtig, einen offenen Dialog zu führen und die Bedürfnisse des Kindes zu verstehen. Vielleicht steckt hinter der Verweigerung der Hausaufgaben ja auch eine Überforderung oder ein anderes Problem. Eltern sollten versuchen, die Ursache der Lüge zu ergründen und gemeinsam mit dem Kind eine Lösung zu finden.

Ab zehn: Mama, ich brauch‘ mehr Geld!

Mit zunehmendem Alter ändern sich auch die Motive für das Lügen. Anna, zehn Jahre alt, wird von ihrer Mutter zum Einkaufen geschickt und behält einen Teil des Geldes für sich, um sich eine CD zu kaufen. Als die Mutter den Kassenbon findet, ist sie wütend, bleibt aber ruhig und fragt Anna nach dem Grund für ihr Verhalten. Anna erklärt, dass sie sich die CD unbedingt kaufen wollte, aber nicht wusste, wie sie ihre Mutter davon überzeugen sollte. Die Situation führt zu einem Gespräch über Annas Konsumbedürfnisse und endet mit einem Kompromiss: Anna darf einen Teil des Geldes behalten und kann sich durch Hilfe im Haushalt etwas dazuverdienen. Eine gute Lösung, findet Diplompsychologin Krüger, denn Annas Mutter hat zwar kein Verständnis für die Unterschlagung, aber für den Wunsch nach mehr Geld signalisiert und einen Weg angeboten.

Es ist wichtig, die Kinder in diesem Alter genau zu beobachten. Stehen sie unter Konsumdruck? Versuchen sie, sich durch Lügen Vorteile zu verschaffen? Wenn ja, ist es wichtig, die Ursachen dafür zu ergründen und gemeinsam mit dem Kind Strategien zu entwickeln, wie es mit solchen Situationen umgehen kann, ohne zur Lüge greifen zu müssen. Eltern sollten ihren Kindern beibringen, ihre Bedürfnisse offen zu kommunizieren und Kompromisse einzugehen.

Jasmin, zwölf Jahre alt, ist ein Meister der Ausreden. Sie erfindet fadenscheinige Gründe, warum sie ihre Hausaufgaben nicht machen konnte, und erzählt ihren Eltern, sie habe bei ihrer Freundin für die Englisch-Arbeit gepaukt, obwohl sie im Kino war. Wenn sie eine neue Uhr möchte, versteckt sie die alte und behauptet, sie sei ihr beim Sport gestohlen worden. Jasmin überschreitet die Grenze von Gelegenheitslügen zu strategischen Täuschungen. In solchen Fällen ist es wichtig, konsequent zu sein und dem Kind die Konsequenzen seines Handelns aufzuzeigen. Eltern sollten Jasmin klar machen, dass Lügen das Vertrauen zerstören und dass es wichtig ist, ehrlich zu sein, auch wenn es unangenehm ist.

Fazit: Ehrlichkeit währt am längsten

Die Erziehung zu Ehrlichkeit ist eine der größten Herausforderungen für Eltern. Kinder lügen aus verschiedenen Gründen und in verschiedenen Phasen ihres Lebens. Es ist wichtig, die Ursachen für das Lügen zu verstehen und angemessen darauf zu reagieren. Eltern sollten ihren Kindern ein Vorbild sein, indem sie selbst ehrlich sind und offen über ihre eigenen Fehler sprechen. Sie sollten ihren Kindern beibringen, dass Ehrlichkeit das Fundament für Vertrauen und Beziehungen ist und dass sie langfristig immer die bessere Wahl ist. Gleichzeitig sollten Eltern ihren Kindern auch beibringen, dass es in manchen Situationen angebracht ist, diplomatisch zu sein und nicht immer alles zu sagen, was man denkt. Es geht darum, einen gesunden Mittelweg zu finden und den Kindern zu helfen, zu vertrauenswürdigen Menschen heranzuwachsen. Die Reise ist nicht immer einfach, aber sie ist es wert.

QUELLEN

Eltern.de

Lese auch